«Die WEMF präsidieren zu dürfen, hat eine hohe Sinnhaftigkeit»
Marcel Kohler, ehemaliger Geschäftsführer von 20 Minuten, präsidiert seit Juni 2022 den Verwaltungsrat der WEMF. Im Interview mit Mike Weber, Director of Marketing and Sales, verrät der langjährige Medienmanager, welche Ziele er in seinem neuen Amt als WEMF-VRP verfolgt und wo er die grössten Herausforderungen der Branche sieht. Ausserdem beleuchtet er die Produktneuheiten der WEMF und reflektiert, was das Unternehmen noch besser machen kann.
Guten Tag, Marcel Kohler, bei Ihnen hat sich in diesem Sommer einiges bewegt. Nach Ihrem Rücktritt als Geschäftsführer von 20 Minuten sind Sie dem Verwaltungsrat beigetreten. Dieses Amt haben Sie auch bei den Schaffhauser Nachrichten inne. Im Juni 2022 wurden Sie zudem zum Verwaltungsratspräsidenten der WEMF gewählt. Was nehmen Sie aus Ihrer langjährigen Verlagstätigkeit mit für Ihre neue Rolle bei der WEMF?
Ich habe fast mein ganzes Berufsleben in der Medienbranche verbracht und dabei neben der Schweiz auch Verantwortung für Medien im Ausland getragen. Dabei habe ich u. a. auch Einblick in die Medienforschung in anderen Ländern bekommen. Es ist mein Anspruch, meine Erfahrung nutzbringend als VR-Präsident bei der WEMF einbringen zu können.
Auf welche Aufgaben freuen Sie sich als neuer VRP der WEMF besonders?
Es gibt nicht die eine Aufgabe, auf die ich mich besonders freue. Der Reiz besteht darin, ein Medienforschungsunternehmen, welches dank sehr guter Arbeit im Markt eine hohe Akzeptanz geniesst, durch den strukturellen Wandel begleiten und führen zu dürfen. Wenn ich zur Generation Z gehören würde, würde ich sagen: Die Arbeit der WEMF stärkt die Schweizer Medien und hat damit eine hohe gesellschaftliche Relevanz. Dieses Unternehmen präsidieren zu dürfen, hat eine hohe Sinnhaftigkeit.
Ihren ersten Auftritt als VRP der WEMF hatten Sie am Schweizerischen Medienforschungstag 2022, der zum Thema «Fokus Nachhaltigkeit – an der Zielgruppe vorbei?» abgehalten wurde. Was kann die WEMF konkret zum Thema Nachhaltigkeit beisteuern?
Weil die Arbeit der WEMF die Presse stärkt, ist die Nachhaltigkeit der WEMF gross, aber indirekt: Eine von guten Medien informierte Öffentlichkeit hat eine höhere Sensibilität gegenüber ökologischen Themen. Das gesteigerte Bewusstsein, der Umwelt Sorge zu tragen, hat auch viel mit der Arbeit der Medien zu tun.
Beim etablierten Branchenevent wurden mehrere Produktneuheiten vorgestellt. So stehen beispielsweise mit den Kontakt- und Titelqualitäten (KTQs) in der MACH Basic seit Herbst 2022 neu vier zusätzliche qualitative Kennwerte auf Einzeltitelebene zur Verfügung. Was bringen diese neuen Kennwerte für den Markt?
Für den Medienmarkt bieten die neuen KTQs die Möglichkeit, standardmässig und seriös zusätzliche Informationen zur eigenen Titelleserschaft sowie zu derjenigen der Konkurrenz zu erhalten. Dies kann zumindest teilweise teure Ad-hoc-Forschungen seitens des Lesermarkts ersetzen.
Und was hat der Werbemarkt davon?
Für den Werbemarkt stellen sie die Erfüllung eines mehrfach geäusserten Bedürfnisses nach einer Ergänzung der klassischen Reichweitenwerte pro Titel um qualitative Kenngrössen dar. Es wird damit möglich, bei der Titelwahl auch qualitative Kriterien zu berücksichtigen.
Welcher der vier Kennwerte (Anzahl Pick-ups, Lesemenge, Lesedauer und Titelloyalität) ist aus Ihrer Optik der relevanteste?
Natürlich sind alle vier KTQ-Kennwerte interessant, um detailliertere Informationen zur Titelleserschaft zu erfahren. Während Anzahl Pick-ups, Lesemenge und -dauer klar eine Differenzierung bezüglich der konkreten Nutzung von Zeitungen und Zeitschriften ermöglichen, ist die «Titelloyalität» eine Indikation zur Bindung der Leserschaft an den jeweiligen Titel. Während ich aus der Optik des Medienmarkts die Loyalität als interessanteren Aspekt erachte, halte ich die anderen KTQs aus Werbemarkt- resp. Mediaplanersicht für noch relevanter.
Apropos Loyalität: Sie blieben den beiden Arbeitgebern NZZ und TX Group überdurchschnittlich lange treu. Was waren die grössten Veränderungen, die Sie in diesen 36 Jahren im Medienmarkt erlebt haben?
Die strukturelle Veränderung der Mediennutzung und damit einhergehend die Abwanderung der Inserate-Umsätze zu den amerikanischen Techgiganten.
Zurück zur WEMF. Nicht nur deren Studien werden stetig weiterentwickelt, sondern auch die Tools. Stichwort Agency.OS. Was halten Sie von diesem neuen Agenturtool? Gehört das wirklich noch zum Kerngeschäft der WEMF als Währungsorganisation?
Das Tool wird die Arbeit der Agenturen vereinfachen und zur Bindung dieser Kundengruppe an die WEMF beitragen. Und die mit Agency.OS. erwirtschafteten Deckungsbeiträge stützen auch das Kerngeschäft. Vor diesem Hintergrund begrüsse ich die Weiterentwicklung sehr.
Die WEMF entwickelt sich zusammen mit dem sich dynamisch verändernden Markt. Welchen konkreten Herausforderungen muss sie sich stellen?
Die WEMF muss ihren eigenen Weg finden, in einem strukturell rückläufigen Markt unternehmerisch zu bestehen. Dazu gehört die Überprüfung und gegebenenfalls die Anpassung der Kernleistungen (wie z. B. der Ausbau des Audit-Bereichs um weitere Mediengattungen). Parallel dazu müssen wir uns noch stärker Gedanken machen, welche Geschäftsfelder sinnvollerweise neben dem Kerngeschäft bearbeitet werden können.
Der Medienmarkt und insbesondere die Gattung Print stehen massiv unter Druck. Was braucht es, damit sich die gedruckte Presse langfristig halten kann?
Ich kann leider kein Patentrezept anbieten. Aber die Presse hat es bis heute sehr gut verstanden, sich den schwierigeren Bedingungen anzupassen und mit tieferen Kosten gleichbleibende oder sogar bessere Leistungen zu erbringen. Diese Fähigkeit wird auch in Zukunft gefragt bleiben. Persönlich habe ich das Gefühl und vor allem auch die Hoffnung, dass die Nutzung von Social Media an einem Peak angelangt sein könnte und die traditionellen Medien wieder etwas Boden gutmachen könnten. Ob das dann im Print sein wird, ist allerdings nochmals eine andere Frage. Print könnte perspektivisch zu einem Luxusprodukt werden, für welches die Leserschaft inskünftig mehr bezahlen muss. Ich persönlich gehöre zur Fraktion jener, welche sich diesen Luxus unbedingt leisten wollen. Und ich lebe zum Glück in einem Umfeld, in welchem viele so denken.
Inwiefern unterstützt die WEMF die Marktakteure bei den aktuellen Herausforderungen mit ihren Produkten und Dienstleistungen?
Die WEMF liefert sehr verlässliche Forschungsresultate. In einer Welt, in welcher Forschung und Messung im Marketing einen immer höheren Stellenwert haben, leisten die WEMF-Studien einen wichtigen Beitrag, die Relevanz der Gattung Print im Marketing zu stützen.
Was kann sie noch besser machen?
Die WEMF ist – genau wie ihre Kundschaft – unter hohem strukturellem Druck. Daraus ergeben sich zwei zentrale Herausforderungen:
Erstens müssen wir dafür sorgen, unsere hohe Forschungsqualität beizubehalten oder, wo möglich, noch zu verbessern. Und dies bei gleichbleibenden oder sinkenden Kosten.
Zweitens müssen wir besser transparent machen, welchen Wert die Studien für Medienunternehmen haben. Die Printmedien geben im Vergleich zu anderen Mediengattungen wenig Geld für Medienforschung aus. Zu glauben, man könne dieses Geld «einfach wegsparen», könnte fatale Folgen für die ganze Branche haben. Dies gilt es zu verhindern. Hier muss die WEMF einen Beitrag leisten.
Wir geben uns diesbezüglich grösste Mühe. Zum Schluss: Welche Ziele verfolgen Sie als neuer VRP der WEMF und in welche Richtung werden Sie die WEMF in eine erfolgversprechende Zukunft lenken?
Ich möchte die Geschäftsleitung und alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der WEMF unterstützen, die oben beschriebenen Herausforderungen anzunehmen und nach Lösungen zu suchen.
Vielen Dank für das anregende Gespräch und den motivierenden Austausch.
Zur Person
Marcel Kohlers Karriere begann 1982 beim Schaffhauser Bock. Drei Jahre später folgte der Wechsel zum Verlag der Neuen Zürcher Zeitung, wo er 20 Jahre gewirkt hat. Im Jahr 2006 übernahm er die Geschäftsleitung von 20 Minuten und prägte die Entwicklung und Transformation des Pendlermediums während 16 Jahren massgeblich. 2016 wurde Marcel Kohler zum Schweizer Medienmanager des Jahres gewählt. Nach seinem Rücktritt im Juli 2022 nahm er im Verwaltungsrat von 20 Minuten Einsitz. Dieses Amt hat er auch bei den Schaffhauser Nachrichten und bei der AsFam, einem Unternehmen, welches pflegende Angehörige unterstützt, inne. Seit Juni 2022 präsidiert der langjährige Medienmanager den Verwaltungsrat der WEMF.